Wir haben darauffolgende Email am WE von einer sehr lieben Cousine meiner Frau bekommen. Sehr lesenswert finde ich und macht momentan den Ausmaß der Pandemie mehr als deutlich.
Um die Privatsphäre unserer Cousine zu schützen habe ich nur ein bisschen editiert.
Liebe Familie!
Ich bin in den letzten 2 Jahren sehr oft von Verwandten oder Feunden gefragt worden, wie es mir in der aktuellen Situation in der Pandemie als Ärztin gehe und ob es wirkich "so schlimm sei". Ich habe dazu mir ein paar Gedanken gemacht. Da sich meine persönliche Meinung zu politischen und medizinischen Maßnahmen immer wieder ändert, bin ich zu dem Schluss gekommen, Euch einfach meinen letzten Arbeitstag mit einzelnen Patientenfällen zu beschreiben. Seht es als Zeitdokument und vielleicht auch als Möglichkeit für mich meine Gedanken zu ordnen. Ich versuche es so zu formulieren, dass ich die ärztliche Schweigeplicht nicht verletze. Für Kritik oder Fragen bin ich offen.
Ich arbeite als HNO Fachärztin an und mache gerade die Weiterbildung zur Phoniaterin (Stimm-und Sprachheilkunde, frühkindliche Sprech-und Hörstörungen). Ich sehe in einer kleinen spezialisierten Abteilung in meiner Sprechstunde Patienten mit Stimm- und Sprachstörungen, viele Kinder mit Hörstörungen, Schluckstörungen und Tumorpatienten nach erfolgter Therapie,
Mein Arbeitstag letzten Mittwoch sah so aus:
7.35 Morgenbesprechung: folgende Fakten wurden besprochen:
neue Studie wird vorgestellt: diese zeigt, dass die Anzahl an Tumorpatienten von Kopf Hals Tumoren in den letzten 2 Jahren gleich geblieben sind, die Patienten jedoch tendentiell mit ausgedehnteren Tumorstadien operiert wurden, also später in die Klinik kamen
von 6 OP-Säalen laufen heute nur noch 2, da Anästhesiepflegepersonal fehlt (ausgeliehen auf die anästhesiologische intensivstation).
das große Tumorwerk (so heißen lange Tumoroperationen, die an die 6 Stunden dauern) von heute muss abgesagt werden, da am Nachmittag auf unserer Intensivstation mit 5 Beatmungsbetten nur eine ausgebildete Pflegefachkraft arbeitet wegen Personalmangel (das hilft auf anderen Stationen aus) und "elektive" Eingriffe verschoben werden sollen. Der Patient hat sich heute psychisch drauf eingestellt seinen Kehlkopf zu verlieren und muss jetzt warten. Gegebenenfalls müssen wir den Luftröhrenschnitt, der im Rahmen der OP geplant war, vorziehen, damit er nicht erstickt.
8.00h Morgenbesprechung in der Phoniatrie: endlich wieder mal vollbesetzt:
die Logopädin ist wieder aus der Quarantäne entlassen (trotz doppelt geimpft hat sich sich an ihrem auch doppelt geimpften Freund angesteckt, der sich in der Arbeit von einer ungeimpften Behinderten, die keine Maske tragen kann, angesteckt hatte). Die Termine die diese Logopädin mit unseren kleinen Patienten ausgemacht hat wurden ins nächste Jahr März verschoben (vorher ist keine Zeit) Hier geht es um Entscheidudungen, welche Fördermaßnahmen und finanziellen Unterstützung ein Kind mit schweren Sprachstörungen braucht und wie wir es unterstützen können.
Ich mache bei meiner ungeimpften Arzthelferin einen Rachenabstrich, das ist jetzt Pflicht in der Klinik 2x in der Woche
ab 8.15 Sprechstunde:
hier nur ein paar meiner Fälle an diesem Tag als Beispiele, die ich in direkten Bezug auf Covid sehe:
Patientin mit Stimmstörung. Bei der letzten Vorstellung im Mai bei mir war alles sehr gut kompensiert, die Patientin konnte wieder gut in ihrem Beruf arbeiten und ihre Stimme voll belasten. Seit ihrer Covidinfektion (wie Grippe, sie war geimpft) im August ist dies etwas schlecher geworden, wir werden etwas Logopädie verschreiben. Sie sitzt da und fängt plötzlich zu weinen an: Ihre Schwester (ungeimpft, keine Risikofaktoren) habe sich gleichzeitig mit ihr infiziert. Sie sei gestern nach 9 Wochen aus dem Koma aufgewacht. Es folgt ein längeres Beratungsgespräch mit der Patientin, wie man trotz Luftröhrenschnitt kommunizieren lernen kann und dass sie bald mit ihrer Schwester wieder lachen könne
4 Jähriges Kind, das vor 9 Monaten zu stottern angefangen hat. Auslösendes Ereignis nicht klar. Therapieplatz beim Logopäden wegen Corona erst im Januar nächsten Jahres bekommen, es gäbe aktuell dringendere Fälle abzuarbeiten
Kontrollschluckuntersuchung bei langzeittracheotomiertem Covid Patienten aus der ersten Welle. Der 76 Jährige strahlt mich an, er könne mitlerweile schon passierte Kost und angedickte Flüssigkeiten gut essen und trinken ohne sich zu verschlucken. Dies sei nach 9 Monaten Ernährung nur über die PEG für ihn schon toll. Er würde aber auch mal wieder gern ein Bier trinken, daran verschlucke er sich jedoch noch weiter, was eine schwere Lungenentzündung nach sich zieht, die er bei der agegriffenen Lunge nur schwer überleben werde, daher erlaube ich es nicht, obwohl ich ihm "als Niederbayerin aus vollsten Herzen gönen würde", wie ich sage. (Ich denke mir nur, dass ich hoffentlich NIE in meinem Leben passierte Kost essen muss, das Andickmittel für Flüssigkeiten ist ekelhaft, aber es verhindert, dass der Patient seinen Flüssigkeitshaushalt erhalten kann. Ich stell mir vor, wie Rotwein wohl angedickt schmeckt... pfui deifi)
Schluckuntersuchung auf der Intensivstation bei Patientin mit Schilddrüsenproblemen: bei der Untersuchung wird die Patientin asystol, der Kreislauf sackt kurz weg. Als ich dies dem Stationsarzt melde, schreit er mich an, warum die jetzt asystol gewesen sei, er brauche doch das Bett für einen anderen und wollte sie auf Normalstation legen.. ich gehe... schlechte Stimmung auf der Station.... alle überlastet
Konsiliarische Mitbeurteilung bei noch infektiösem Covidpatienten auf Normalstation: mir wird in der Montur (Helm, FFP3 Maske, Kittel, Handschuhe) nach 5 min schlecht, ich untersuchune den Patienten im Affenzahn, beende mein Patientengespräch sehr schnell und geh wieder raus. Tut mir leid für den armen Mann, er hatte sich glaub ich mehr Erklärungen erwartet. Aber er hat eh nur die Hälfte von mir verstanden, da ich Helm und Maske trage. Der Mann bleibt einsam in dem Zimmer zurück. Das ist eigentlich nicht meine Art des Pateintenumgangs.
Fallbesprechung mit Kollegen: Anfrage aus einer Klinik: 60 jährige Patientin mit Zustand nach Langzeitintubation und Tracheotomie bei Covidinfektion vor 9 Monaten hat wegen instabiler Trachea einen Stent in die Trachea bekommen, der jetzt zuwächst. Die Patientin hat trotz Luftröhrenschnitt Luftnot, Prognose: schlecht
16.30 Treffen meiner Freundin an der KITA als ich die Kinder abhole
Ihr Mann sei nur noch am Telefon und koordiniere die Intensivbetten von Unterfranken und sei extrem genervt. Tag und Nacht läute das Telefon seit Monaten. Die Familie leide drunter.
Heute Nacht seien wieder 2 Betten frei geworden, ein 29 Jähriger und 50 jähriger (beide ungeimpft, ohne relevante Vorerkrankungen) seien jetzt tot. Von 12 Betten seien 10, also heute nur noch 8 mit ungeimpften Covidpatienten belegt. Das Kind der Schwangeren Covidpatientin mit schon 2 Kindern hätten sie noch holen können, die Patientin sei jetzt trotz Maximaltherapie tot. Die nette Anästhesistin sei jetzt doch wieder zum Dienst gekommen nach ihrem Heulkrampf und ZUsammenbruch, als sie letzte Woche in ihrem Wochenenddienst 3 Patienten zwischen 30 und 60 (ungeimpft, ohne relevante Vorerkrankungen) verloren habe. Der 65 jährige Patient, der wegen eines gut zu behandelnden Notfalls (kein Covid) aus dem Süden Bayerns übernommen worden sei, da dort es dort keine Bettenkapazitäten mehr gebe, habe nur noch 2 Stunden in ............... gelebt. Der Transport habe zu lang gedauert.
21h Zoom meeting mit Studienfreunden: mein Pathologenfreund erzählt von seinen Fällen. Letzte Nacht sei ein 70 Jähriger im Kreis Erlangen in einer Klinik an einer Blutvergiftung gestorben, weil er viel zu spät operiert worden sei, da kein Anästhesist frei gewesen sei und ihn sämtliche Krankenhäuser im Umkreis aus Kapazitätsgründen abgelehnt hätten.
Neurologenfreund berichtet von Schlaganfallpatienten, der zu spät versorgt wurde heute Nacht, weil kein Anästhesist Zeit hatte.
Was geht mir wirr durch den Kopf?
Das, was ich als kleine HNO Ärztin, die keine akute Notfallversorgung betreibt, täglich erlebe, übertrifft klar die Berichte der Medien. Dies betrifft sowohl die akute Situation als auch die Langzeitfolgen der Covidpatienten.
Die verantwortlichen Ärzte und Pfleger sind über dem Limit, das Betriebsklima hat sich verändert. Ich merke bei mir selbst, dass ich an meine Grenzen stoße und ich manche Schicksale viel näher als früher an mich ranlasse, weil mein Nervenkostüm dünner ist.
Die Aggression in der Klinik gegen ungeimpfte Patienten steigt, obwohl es weiterhin ungeimpftes Personal gibt.
Auf unserer Intensivstation liegen nur Ungeimpfte, manche mit, manche ohne Vorerkrankungen, manche vorher fit, manche nicht. Breites Feld.
Ein Covid Patient in der Klinik ist einsam.
Die Triage hat schon längst angefangen. Es sterben Menschen, weil es keine Betten mehr gibt. In Bayern!
Ich hoffe, dass sich meine liebsten um mich rum nicht verlieren muss, weil die Klinik keinen Platz mehr für sie hat.
Passt auf Euch auf!
Seid lieb gegrüßt, ich freu mich auf ein Wiedersehen mit Euch! Danke für's Lesen bis hierhin.